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Eine Sozialreform braucht Zeit

INSM-Position Bürgergeld

Der Vermittlungsausschuss von Bundesrat und Bundestag hat parteiübergreifend beschlossen anstelle der Grundsicherung (Hartz IV) ein Bürgergeld einzuführen. Die ursprüngliche Idee ist laut Koalitionsvertrag eine umfassende Sozialstaatsreform: Eine unabhängige wissenschaftliche Kommission solle vorschlagen, wie das neue Bürgergeld mit anderen steuerfinanzierten Sozialleistungen wie dem Wohngeld abgestimmt werden kann.

25. November 2022

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Der Vermittlungsausschuss von Bundesrat und Bundestag hat parteiübergreifend beschlossen anstelle der Grundsicherung (Hartz IV) ein Bürgergeld einzuführen. Die ursprüngliche Idee ist laut Koalitionsvertrag eine umfassende Sozialstaatsreform: Eine unabhängige wissenschaftliche Kommission solle vorschlagen, wie das neue Bürgergeld mit anderen steuerfinanzierten Sozialleistungen wie dem Wohngeld abgestimmt werden kann. Ziel ist, die Leistungen digital und unkompliziert zugänglich zu machen und mehr Arbeitsanreize für erwerbsfähige Leistungsbeziehende zu bieten. 

Im nun beschlossenen Gesetzentwurf finden sich jedoch nicht alle Elemente des groß angekündigten Reformvorhabens, womit der Beschluss nicht weit genug geht. Gerade in Zeiten des Fachkräftemangels in Deutschland sind die Chancen auf einen neuen Job so gut wie seit langem nicht mehr, da jede Hand auf dem Arbeitsmarkt dringend gebraucht wird. Um das Potenzial der erwerbsfähigen Leistungsbeziehende zu heben, braucht es Mut für eine große Reform und mehr Vorlaufzeit. Insbesondere für einen zeitgemäßen Zugang zum Bürgergeld - „digital und unkompliziert“ - müssen grundsätzliche Weichen in der Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung gesetzt werden.

 

Die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft begrüßt deshalb,

 

  • dass das Prinzip „Fördern und Fordern“ beibehalten wurde. 
  • dass Leistungsbeziehende mit Weiterbildungen und individueller Betreuung besser gefördert werden sollen. Die Teilhabe am ersten Arbeitsmarkt muss aber weiterhin das Ziel bleiben und erleichtert werden.
  • dass die Jobcenter weiterhin Sanktionen verhängen können. Die Mitwirkungspflichten dürfen aber aus Gründen der Fairness nicht weiter reduziert werden.
  • dass der Zuverdienst für Leistungsbeziehende attraktiver werden soll. Die wissenschaftliche Evidenz muss jedoch stärker berücksichtigt werden. Mehrarbeit muss sich spürbar lohnen.

 

„Fördern und Fordern“ beibehalten

Die deutsche Grundsicherung wurde 2005 grundlegend reformiert. Das Prinzip „Fördern und Fordern“ war dabei wegweisend. Die Idee dahinter ist, dass der Staat die (Wieder-)Eingliederung in den ersten Arbeitsmarkt fördert und gleichzeitig Eigeninitiative von den Hilfebedürftigen einfordert. Wessen Einkommen unterhalb der Grundsicherung liegt, kann „aufstocken“. Im Sinne der Gemeinschaft ist es, Steuergelder gezielt nach Bedürftigkeit und nicht pauschal mit der Gießkanne zu verteilen. 

In der konkreten Ausgestaltung von der Grundsicherung muss der gesellschaftliche Mindeststandard, gemessen am Wohlstandsniveau des Landes (in Preisen und Löhnen), gefunden werden. Gleichzeitig darf der Anreiz, die Lebenssituation durch eigene Anstrengung zu verbessern, nicht verloren gehen. In Anbetracht der sich abzeichnenden mittelfristig höheren Inflation ist eine Anpassung der Berechnung der Regelbedarfe sinnvoll.

Die Reform von 2005 hat sich bewährt: Die Arbeitslosigkeit ist trotz großer Krisen auf einem niedrigen Niveau. Auch die Zahl der Langzeitarbeitslosen ist deutlich gesunken und bewegt sich seitdem auf einem niedrigen Niveau. In den letzten 15 Jahren haben immer mehr Menschen Arbeit gefunden. Dennoch ist in Zeiten des Fachkräftemangels eine weitere Aktivierung der Leistungsbeziehende richtig und wichtig. Daher begrüßt die INSM grundsätzlich eine Reform mit dem Schwerpunkt „Fördern und Fordern“ sowie eine wissenschaftlich begleitete Verbesserung der Zuverdienstmöglichkeiten. Kontraproduktiv ist hingegen, abschlagsfreie Frühverrentungen zu alimentieren. Stattdessen sollten die Arbeitsanreize für Ältere und Zweitverdiener:innen im Leistungsbezug verbessert werden und Alleinerziehenden müssen bessere Rahmenbedingungen zum Beispiel durch verstärkte Ganztagsbetreuung von Kindern für die eigene Erwerbstätigkeit geboten werden.

 

Besser fördern

Qualifikationen ermöglichen dann Erwerbstätigkeit, wenn sie auf dem Arbeitsmarkt gefragt sind. Im Umkehrschluss heißt das: Weiterbildungen um ihrer selbst willen, finanziert über die Arbeitsagentur, helfen wenig. Gefragt sind passgenaue Weiterbildungen, die an bereits erworbene Qualifikationen von Arbeitslosen anknüpfen und zur Arbeitsmarktnachfrage passen. Priorität sollte der Erwerb von fehlenden Schul- bzw. Berufsabschlüssen haben. Schlussendlich müssen auch die Träger und deren Weiterbildungsmaßnahmen standardisiert evaluiert werden, um die investierten Steuergelder effizient einsetzen zu können.

Arbeitslose sollten zudem in den Jobcentern individuelle Betreuung und Beratung bei der Maßnahmenauswahl und bei der Arbeitsvermittlung erhalten. Positiv ist die geplante Verbesserung im Bereich der Weiterbildung. Unzureichende Bildung verringert Beschäftigungschancen und erhöht damit das Armutsrisiko deutlich. Zwei Drittel der Leistungsbeziehende verfügen über keine abgeschlossene Berufsausbildung. Gerade jüngere und ältere Arbeitslose brauchen bessere Betreuungsquoten. Dazu gehört, dass die Jobcenter personell ausreichend besetzt sind. 

Weiterbildung ist gut. Aber im Zweifel ist eine Weiterbildung in einem Arbeitsverhältnis vorzuziehen. Der Vermittlungsvorrang regelt bisher, dass eine Arbeitsvermittlung Priorität vor einer Weiterbildungsmaßnahme hat, gilt jedoch nicht uneingeschränkt. Denn auch aktuell sollen Menschen ohne Berufsabschluss möglichst in eine Ausbildung gebracht werden (§ 3 Absatz 2 Satz 2 SGB II). Den Vermittlungsvorrang – wie nun beschlossen – gänzlich abzuschaffen, ist fehlgeleitet.

 

Mitwirkung weiterhin auch mit Sanktionen einfordern

Als Gegenleistung für die Grundsicherung wird von den Leistungsbeziehende die Bereitschaft vorausgesetzt, ihre Lage aus eigener Kraft verbessern zu wollen. Zeichen des guten Willens sind etwa die Pünktlichkeit bei Terminen im Jobcenter und die Kooperationsbereitschaft gegenüber Fallmanager:innen. Wenn dieses Minimum an Eigenverantwortung nicht erkennbar ist, drohen als letztes Mittel Sanktionen, das heißt, Sozialleistungen werden gekürzt. Selbst eine drohende, (noch) nicht vollzogene Sanktion kann eine positive Verhaltensänderung bewirken. 

Wissenschaftliche Studien wie vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, der Forschungseinrichtung der Bundesagentur für Arbeit zusammengefasst, belegen die intendierte positive Wirkung von tatsächlich ausgesprochenen Sanktionen auf die Betroffenen – eine im Schnitt beschleunigte Aufnahme der Erwerbstätigkeit.

Lediglich drei Prozent aller erwerbsfähigen Leistungsberechtigten werden überhaupt sanktioniert. Am häufigsten geahndet wird das unentschuldigte Nichterscheinen bei Terminen in den Jobcentern. Sanktionen sind ein wichtiges Instrument der Fallmanager:innen. Eine Grundsicherung ohne das Bemühen der Leistungsbeziehende, ihre Situation zu verbessern, widerspricht dem Gerechtigkeitsempfinden der Mehrheit in Deutschland und verschlechtert die Teilhabechancen der Leistungsbeziehende. 

Indem die Sanktionsmöglichkeiten ab dem ersten Tag an erhalten bleiben, folgt ver Vermittlungsausschuss den wissenschaftlichen Erkenntnissen und gibt den Jobcentern den Ermessensspielraum, den das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil aufgezeigt hat.

 

Zuverdienst attraktiver gestalten

Unstrittig ist, dass eine Ausweitung der Arbeitszeit für Leistungsbeziehende attraktiver werden sollte. Auch die INSM begrüßt ausdrücklich, die Zuverdienstregeln zu verbessern. Aktuell sind die ersten hinzuverdienten 100 Euro in der Grundsicherung anrechnungsfrei, das heißt, es werden keine Transferleistungen abgezogen. Bei Einkommen über 100 Euro steigt der Entzug von Transfers auf bis zu 100 Prozent je verdienten Euro an. Die Folge der hohen Transferentzugsraten: Mehrarbeit lohnt sich finanziell für „Aufstockende“ kaum, weil der Einkommensunterschied im Vergleich zu Vollzeitbeschäftigten mit geringer Qualifikation nicht groß genug ist.

Mehrarbeit muss sich auch für „Aufstockende“ lohnen. Jede Änderung der Zuverdienstregeln kann das gesamte Arbeitsangebot im unteren Lohnsegment auch die Zahl der Leistungsbeziehenden vergrößern und verkleinern. Daher ist es sinnvoll, die genaue Ausgestaltung einer unabhängigen Kommission aus verschiedenen Forschungsinstituten zu überlassen wie im Koalitionsvertrag vorgesehen. Die Politik sollte bestmöglich beraten zu potenziellen Anpassungen von Arbeitsangebot, Arbeitsnachfrage und Anzahl der Leistungsbeziehenden sein, um mehrere steuerfinanzierte Sozialleistungen zum Wohl der Gemeinschaft zu reformieren. Schon jetzt sollte mit der wissenschaftlichen Begleitung des Folgegesetzes begonnen werden, welches wie im Koalitionsvertrag angekündigt, mehrere Sozialleistungen reformieren soll.

 

 

Quellen und Informationen

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